Teil 1 der essenziellen Alben aus dem September findet ihr hier, Teil 2 hier, die Mixe hier, die Compilations hier.
Kieran Hebden & William Tyler – 41 Longfield Street Late ‘80s (Temporary Residence Ltd.)
Bei zwei Minuten achtunddreißig kommt der Break, mit dem nach diesem Anfang wohl keine:r gerechnet hat. Nach den anschwellenden Synthesizer-Wogen, die sich aus einem tiefen Ton immer mehr in zunehmende Vielstimmigkeit entwickelt hatten. Da erwartet der Electronica-Aficionado relaxten Ambient, aber nicht das: Abruptes Abbrechen des Synthie-Soundgebildes und die unmittelbare Fortführung des Tracks durch eine Fingerpicking-Gitarre wie aus einem Folk-Lehrbuch aus den Siebzigern. Sehr charmant und umso ungewöhnlicher. Bald setzt der Synthesizer wieder reduzierter ein, und es ergibt sich ein Zusammenspiel, das im weiteren Verlauf des fast zwölfminütigen Stücks rhythmische Sequenzen, bearbeitete Gitarren und etliches mehr ergänzen. Dieser vielschichtige Track kann als Blaupause für die folgenden sechs Songs des Albums gesehen werden, in dessen Verlauf alle erwähnten Elemente wieder auftauchen – natürlich in verschiedenster Gewichtung zueinander und addiert durch weitere. Immer wieder überraschen gut dosierte Brüche wie die noisigen Gitarrenfeedbacks in der vorher wohlig-harmonischen Gitarrenmeditation „When It Rains”. Oder Hall- und Delay-Effekte, die kurzzeitig und intensiv eingesetzt in ruhige Passagen grätschen. Ganz davon abgesehen, dass der zweite Track rein elektronisch ist und mehr nach Minimal Techno klingt als nach abgefahrener Electro-Folk-Fusion. Macht aber im Gesamtbild von 41 Longfield Street Late ’80s absolut Sinn, denn pure folky Andacht braucht’s hier und heute nicht wirklich – zumindest nicht von William Tyler und Kieran Hebden alias Four Tet, die beide für alles, nur nicht für Stillstand oder gar Rückbesinnung stehen. Wunderbar auch der letzte Song, der über fast acht Minuten eine Akkordkadenz und eine euphorisch jubilierende E-Gitarrenmelodie, die an Robert Fripp denken lässt, gefühlt endlos wiederholt und dann in einem kurzen Sonic-Youth-Gedächtnis-Ende versickert. Mathias Schaffhäuser

Polygon Window – Surfing On Sine Waves (Warp) [Reissue]
Surfing On Sine Waves erschien 1993 als zweites Album von Richard D. James auf Warp, wenn auch nicht als Aphex Twin, sondern unter seinem Pseudonym Polygon Window, das er nur für diese Platte und die zugehörige EP Quoth verwendete. In dieser Wiederveröffentlichung ist nun alles enthalten, was jemals unter diesem Namen erschien. Also das eigentliche Album und besagte EP mit zwei Remixen des titelgebenden Tracks sowie zwei zusätzlichen Stücken. Und als Bonus gibt es noch die 2001 von Warp per Maxi nachgereichten Tracks „Portreath Harbour” und „Redruth School”. Das komplette Polygon-Window-Paket also – und das klingt heute so gut wie vor 32 Jahren.
Die Tracks decken James‘ breitgefächertes Spektrum ab – von atmosphärischen, komplexen Electronica-Kleinoden über hypnotischen Ambient-Electro bis hin zu stampfenden Hardcoretechno-Tracks. Einzig beatlose Ambient-Tracks oder Stücke mit präpariertem Klavier fehlen. Dafür gab es ja die im selben Jahr erschienenen Selected Ambient Works Volume II. Und James’ Tracks haben bis heute nichts von ihrer eigentümlichen Faszination verloren, wirken in ihrem organischen Sounddesign – das Cover mit einem Bild der Cornwall’schen Küste, eventuell ja direkt neben dem Eingang zu seinem legendären Meeresgrotten-Studio aufgenommen, passt hier wirklich hervorragend – wie elektronische Folksongs aus der Zukunft. Zeitlos gut. Tim Lorenz

Rian Treanor & Cara Tolmie – Body Lapse (Planet Mu)
Aufgemerkt! Wenn Stimme und Maschine in Body Lapse aufeinandertreffen, entsteht bislang Ungehörtes. Rian Treanor & Cara Tolmie legen mit ihrem Debüt auf Planet Mu ein ziemlich experimentelles Album vor – Soundforscher:innen willkommen.
Der Auftakt, „As The Unified Field Bursts”, schlägt sofort zu: quietschende Chimes, zersplitterte Beats, eine Stimme, die in Bruchstücke zerlegt, gedehnt, gestaucht wird. Man spürt förmlich, wie der Körper atmet, wie er sich windet. Einige Momente wirken wie in einem Traumbild. „Incongruous Diva” steigert diese Spannung. Tolmies Stimme bricht, tastet nach Worten, Rian Treanors Beats wirken wie Fragmente, der Dancefloor bekommt Risse. Dann gibt es Momente des Aufatmens: „Sleep Guessings” etwa reduziert, schafft Raum für Atem, für Pause. Die Stille – oder nahezu Stille – wirkt hier wie ein Vakuum, das jede Stimme und jeden Laut umso schärfer konturiert. Wenn Tolmie „Tonight all your guessings will be sleep” haucht, ist das weniger beruhigend als beunruhigend. In „Out Of” zeigt sich die Kraft der Wiederholung: jeweils mit „Out” beginnende Phrasen, die stillstehend pulsieren, während das Instrumental zurückgenommen wird – man resigniert und ist andererseits wachsam. Mit „Ereh Ma I” baut sich das Album in eine sphärische, fast improvisatorische Dimension auf. Hier wachsen Bilder vor dem inneren Auge. Manchmal verliert das Stück etwas an Fokus, wenn es immer weiter mäandert, doch gerade diese Grenzüberschreitung verleiht ihm eine gewisse Faszination. Gegen Ende kippt „My Little Loophole” zwischen digitaler Ballade und unruhigen, zittrigen Vocals, die als Sprachfragmente durch synthetische Räume stolpern. Beats, die an Raves denken lassen, an Bewegung, an ausgelassene Anspannung. Und „Endless Not” bietet als Abschluss das verrauchte Verschwinden im Nebel: Erinnerungen, Sprache, Stimmen falten sich ineinander, doch nicht ins Nichts, sondern in etwas.
Body Lapse ist kein Album, das sich einfach so konsumieren lässt. Es drängt, stört, fordert: Wie wirkt eine Stimme, wenn sie sich selbst dekonstruiert? Wie laut kann leise sein, wie nah kann Ferne sein? Für all jene, die in elektronischer Musik nicht bloß Klangtexturen, sondern Körper, Sprache, Experiment suchen, liefert dieses Album eine intensive Reise. Den Mut zum Unfertigen, zum Wackeligen – und am Ende eine eigenwillige Schönheit, die lange nachklingt. Liron Klangwart

Rhys Fulber – Memory Impulse Autonomy (Artoffact)
Auf Memory Impulse Autonomy vollzieht Rhys Fulber eine Gratwanderung zwischen Nostalgie und Neuerfindung – eine Erinnerung an frühe Impulse, zugleich ein Statement für eine gegenwärtige, raue Klangästhetik. Auf seinem ersten Soloalbum für Artoffact lädt er ein in seine eigene Welt des Sounds.
Der Titel verrät schon die Absicht: Erste musikalische Einflüsse sollen nicht nostalgisch verklärt, sondern als Inspiration reaktiviert werden. Fulber spricht selbst davon, dass „dieser Stil in mir eingebettet ist” und man durch eine Rückbesinnung wieder freier agieren könne. Gleichzeitig zitiert er Einflüsse – Cabaret Voltaire, Skinny Puppy – als Rohstoff, aus dem er neue Formen baut. Das Album beginnt mit „The Abyss (feat. Qual)”, ein wuchtiges Intro, in das Fulber knackige Beats setzt, während Quals Stimme zwischen Entschlossenheit und Zerrissenheit pendelt. Der Track fühlt sich wie das Betreten eines Klangraums an, der vertraut klingt, aber definitiv eine andere Gravitation hat. Bei „Control (feat. Qual)” erlaubt sich Fulber anfangs mehr Zurückhaltung, baut Spannung auf, um sie gegen Ende mit härteren Strukturen aufzulösen: ein gutes Beispiel, wie er Pop-Formeln dehnt, ohne sie zu trivialisieren. Ein eindrucksvoller Moment ist „Only Love Will Save Us (feat. Barkosina)”: hier verschmelzen ätherische Stimme und rhythmisches Fundament, das trancig wirkt, aber von industriellen Vibrationen durchzogen ist. Rein instrumentale Stücke wie „Exclavier” demonstrieren Fulbers Fähigkeit, Klangräume mit skulpturalen Sounds zu formen — Effekte, Filter, Sequenzen, die sich spiralförmig entfalten, sich drehen und schließlich eine eigene Gravitation erzeugen. „New Despotism” hingegen gelingt es, grobe Texturen und moderne Techno-Elemente zu verweben; es ist ein Stück, das im Herzschlag pulsiert und dennoch in seinen Verwerfungen rätselhaft bleibt. Spätere Tracks wie „Further Back and Forward” zeigen Fulbers Gespür für Balance: zwischen ruhiger Fläche und minimalem Puls, zwischen Klangreflexion und Strukturimpuls. Sie wirken wie kleine Inseln, auf denen man atmen kann. Auch „Baaderzeit” bringt Referenzen auf Tangerine-Dream-artige Sequenzen ins Spiel und verbindet sie mit motorischen Elementen — ein schönes Beispiel, wie Fulber musikalische Historien nicht zitiert, sondern reinterpretiert.
Wenn Memory Impulse Autonomy eine Stärke hat, dann ist es eine kompositorische Kohärenz: Trotz mancher Stilwechsel, vokaler Einschübe und experimenteller Wendungen bleibt das Album ein zusammenhängendes Opus. Die Mischung aus industrieller Härte, elektronischem Design und melodischem Impuls gelingt. Memory Impulse Autonomy ist eine Einladung: in ein elektronisches Hörerlebnis, das sich beim Bedienen der Reset-Taste jedes Mal neu entfaltet. Liron Klangwart

Ten City – The Next Generation (Nervous)
Mit The Next Generation melden sich Ten City zurück und knüpfen dort an, wo sie in den späten Achtzigern das Fundament für Vocal-House mit gelegt haben. Die Gruppe um Byron Stingily hat ihren Sound nie bloß als Dancefloor-Funktionalität verstanden, sondern stets als Botschaft, und so wird House auch auf diesem Album zu einem Ausdruck von Zusammenhalt und Gospel-artiger Community.
Auf The Next Generation treffen klassische Songstrukturen und gospelgetränkte Vocals auf heutige Clubästhetik. Tracks wie „Men Like Me” oder „You’re A Star” tragen die Euphorie von Ten City in die Gegenwart, ohne ihre Wurzeln zu verleugnen. Statt in Retrospektiven zu schwelgen, gelingt hier eine Balance zwischen der frühen House-Ära und einem Sound, der spürbar im Heute verankert ist. Am Ende ist dieses Album doch mehr als eine bloße Rückkehr einer Band, deren Hochzeit in der Vergangenheit liegt. Vielmehr ist es ein Statement, dass House im Jahr 2025 nicht bloß Klangtapete für Clubs ist, sondern nach wie vor soziale Praxis, die Gemeinschaft stiftet, Widerstand artikuliert und sich im Einfluss der Zeit stetig weiterentwickelt. Wencke Riede

Varg²™ & VS–55 – Himlens blad (Blodörn)
Was Himlens blad (Blodörn) von Varg²™ & VS–55 so eindringlich macht, ist der krasse Kontrast, der sich fast am Ende des Albums auftut: Nach langen, hypnotischen Passagen voller dunkler Ambientflächen und verzerrten Vocals bricht „Slöja av nattsvart flunitrazepamᚦᚦᚦpam” wie ein unerwarteter Sturm aus. Plötzlich reißen noisige Verzerrungen und harsche Störgeräusche die bisher ineinander übergehenden Schichten in Stücke. In diesem Bruch entfaltet sich ein Moment, der fast an Heavy Metal erinnert. Er trifft unmittelbar und ohne Vorwarnung, fast wie ein Schlag, und verwandelt das Hören in eine beinahe verstörende Erfahrung.
Doch Himlens blad besteht nicht nur aus dieser Eruption. Das Album, eine Kollaboration von Varg²™, bürgerlich Jonas Rönnberg und Mitgründer des Labels Northern Electronics, und dem geheimnisvollen VS–55, entfaltet zuvor über zehn Tracks hinweg eine zwar ebenfalls düstere, aber gleichzeitig beruhigende Atmosphäre. Titel wie „Döda själar, Hagalund i dimma” („Tote Seelen, Hagalund im Nebel”) verweisen schon sprachlich auf die nordische Melancholie. Die Musik selbst bewegt sich zwischen Ambient und experimenteller Elektronik, getragen von dunklen Flächen, gedämpften Geräuschen und verzerrtem Flüstern wie in „Avlidelse”. Der Großteil überzieht seine Hörer:innen mit einem tranceartigen Schleier, der sanft in eine andere Wirklichkeit hineinzieht. Gerade deshalb entfaltet der Bruch von „Slöja av nattsvart flunitrazepamᚦᚦᚦpam” eine so extreme Wirkung. Er reißt mit einer Wucht aus dem Traumzustand, schleudert in eine harsche Klangwelt aus Noise und Aggression – nur um im nächsten Moment mit „Stockholm – som en sommar” wieder in zarte Klavierakkorde überzugehen. Dieser Kontrast ist das Herzstück des Albums: ein Wechsel zwischen Verstörung und Geborgenheit, der noch lange nach dem Hören beschäftigen wird. Celeste Lea Dittberner
