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Jasmin Moll über ihren Stammheim-Roman: Der Rausch, den du auch ohne Drogen bekommst

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Jasmin Moll war in den frühen Zweitausendern als Teenagerin im legendären Kasseler Technoclub Stammheim feiern – eine Erfahrung, die sie über zwei Jahrzehnte nicht losließ. Nun hat sie diese Zeit zu einem, wie sie es nennt, Tatsachenroman verarbeitet, der im Selbstverlag erschienen ist.

In Wir waren Schall und Rausch erlebt Protagonistin Charlotte ihre ausklingende Teenagerzeit und geht auf eine Reise ins Erwachsenwerden unter Techno-Vorzeichen. Dabei nahm Jasmin Moll ihr Projekt, einem der prägenden deutschen Technoclubs gerecht zu werden, äußerst ernst: Über Jahre hinweg sprach Moll mit Protagonist:innen und trug Material zusammen, das neben dem Buch in einen Soundtrack mit Musik aus dem Stammheim und eine Website, auf der dokumentarische Inhalte zum Club bereitgestellt werden, geflossen ist.

Ferdinand Görig hat sich mit Jasmin Moll in der GROOVE-Redaktionsküche zusammengesetzt und über die Entstehung dieses imposanten Werkes unterhalten.

GROOVE: Wann hast du angefangen, das Buch zu schreiben?

Jasmin Moll: Die Idee zum Buch begleitet mich schon sehr lange. Der Schlüsselmoment fand 2002 statt. Ich war 19 Jahre alt und stand im Stammheim auf dem Big Floor. Ich hatte da einen Lieblingsplatz, es war ein magischer Moment, die Stimmung kochte wieder mal über. Das Licht wurde rot, Nebel stieg auf und es fuhr wie ein Blitz durch mich hindurch. Da wusste ich plötzlich: Ich muss ein Buch schreiben. Ich muss das festhalten. Anfangs habe ich ein Jahr lang überlegt, ob ich eine Dokumentation oder einen Roman machen soll. Ich habe mich schließlich für den Roman entschieden, weil ich gemerkt habe, dass man die Geschichte und das Lebensgefühl auf diese Weise viel unmittelbarer vermitteln kann. Ich wollte, dass die Leute das spüren, und das geht am besten mit einem Roman. Das Schreiben selbst hat dann ganze drei Jahre gedauert. Am Anfang habe ich noch in einer Agentur gearbeitet, doch irgendwann habe ich gemerkt, dass ich diese beiden Dinge, den Roman und Agenturjob, weder zeitlich noch mental gleichzeitig stemmen kann. Für das Buch brauchte ich einen freien Kopf.

Zuvor warst du noch nicht als Autorin tätig, wie hast du dich der Herausforderung gestellt?

In meinem letzten Job habe ich bei einer Werbeagentur gearbeitet. Dort habe ich mit Verlagen und Bestseller-Autoren zusammengearbeitet. Mein Job damals hatte viel mit Storytelling zu tun. Ich habe mehr oder weniger dabei zusehen können, wie man ein Buch schreibt. Von der Skizze übers Plotten zur fertigen Erzählung. Irgendwann kam der Punkt, an dem ich mir dachte: Jetzt bin ich bereit.

Eine Party im Stammheim in einem unbekannten Jahr (Foto: M. Lange)

Wie bist du vorgegangen?

Mir war von Anfang an wichtig, so nah an der Realität zu schreiben wie möglich. Ich habe Schlüsselpersonen kontaktiert und sie um Interviews gebeten. Mit Bringmann & Kopetzki habe ich am längsten gesprochen. Die beiden haben nicht nur die ganzen Artworks des Stammheim und den einflußreichen Hotze-Comic in der GROOVE gestaltet, sondern am Ende auch das Cover meines Buches. Oder auch DJ Chi, der damals viel auf dem House-Floor gespielt hat. Aber auch Stefan Küchenmeister, ein Kassler Urgestein. Meine Priorität war es, den Club und das Gefühl von damals darzustellen. Auch weil ich, wie gesagt, die prägende Zeit nicht miterlebt habe.

Warum war dir so wichtig, gerade das zu dokumentieren, was du selbst nicht erlebt hast?

Das Buch sollte als Tatsachenroman nicht nur die Geschichten erzählen, die ich persönlich erlebte habe. Ich war das erste Mal im September 1999 dort. Da war der Peak des Stammheim schon vorbei. Für mich war die Zeit, in der ich dort war, trotzdem der absolute Wahnsinn. Den Laden gab es aber schon fünf Jahre. Das stellte mich vor eine Herausforderung: Ich wollte unbedingt richtig über den Club erzählen können, deshalb musste ich mit Menschen reden, die von der Pike auf mit dabei waren. An dem Punkt haben mir Bringmann & Kopetzki sehr geholfen. Die beiden konnten Daten und Fakten liefern, die ich brauchte.

„Die Recherche war ein riesiger Aufwand, auf den ich echt stolz bin. Ich habe noch nie ein Buch mit diesem Konzept gesehen.”

Wie unterschied sich die Arbeit am Roman von deinem alten Job?

Es hat erst mal echt lange gedauert, bis ich meinen eigenen Ton gefunden habe. Anfangs war ich noch sehr journalistisch und objektiv unterwegs, es war klassisches Learning By Doing – am Ende musste ich den Anfang noch einmal überarbeiten, weil das ein ganz anderer Stil war.

Für wen hast du das Buch geschrieben?

Ich habe das Buch für die Leute geschrieben, die damals dabei waren, für die Heimkinder, wie sie sich selbst nannten. Ich wollte eine Art Zeitreise schaffen, damit man sich wieder in die gute alte Zeit hineinversetzen und das Erlebte nachfühlen kann. Aber auch für alle, die zu dieser Zeit Teil der Szene waren. Damals war alles sehr viel sorgloser. Als Jugendlicher hat man sich nicht um so viel einen Kopf machen müssen, im Gegensatz zur Jugend heute.

„Das Herzblut, das reingesteckt wurde, war eigentlich die wichtigste Zutat. Alles war auf Augenhöhe. Die Personen, die den Club gemacht haben, waren einfach Freunde, die Bock drauf hatten, Partys zu veranstalten.”

Woran machst du das fest?

Dieses Bild bekomme ich auch von den Leser:innen gespiegelt. Leute erinnern sich zurück und fühlen sich wieder in die Zeit ein. Solche Orte dürfen nicht in Vergessenheit geraten. Das Buch darf als Zeitkapsel verstanden werden, als Medium. Mich würde aber auch freuen, wenn es jüngere Leute lesen, einfach um zu verstehen, wie es damals war. 

Gab es für dich und das Buch literarische Vorbilder?

Ja, Tino Hanekamps Sowas Von Da. Darin geht es um eine letzte Nacht in einem Club. Das ist bei mir gegenteilig, bei mir sind es mehrere Jahre. Generell habe ich aber alles aufgesaugt, was es in Sachen Popliteratur und Literatur über elektronische Musik gibt. Mein Buch ist ein Tatsachenroman, die darin beschriebenen Line-ups und Flyer gab es alle. Charlotte und ihre Freunde gehen immer auf Partys, die es wirklich gab. Die Recherche war ein riesiger Aufwand, auf den ich echt stolz bin. Ich habe noch nie ein Buch mit diesem Konzept gesehen.

Die Salzmannfabrik, die Heimstätte des Clubs (Foto: Jasmin Moll)

Kommen wir mal zum Stammheim selbst. Was war das besondere an dem Club?

Verschiedene Zutaten haben den Club so besonders gemacht. Einmal die Werbung: Der Club hatte fast schon eine Corporate Identity. Die Flyer waren einzigartig, jeder hat eine eigene Geschichte erzählt, alle waren im A5-Format. Die haben sich wirklich was dabei gedacht. Es gab sogar einen Newsletter, der per Post zu dir nach Hause kam. Im Club lagen da Listen aus, in die man sich eintragen konnte. Dann kam alle sechs Wochen ein Brief, die Heimpost.

Das kann man sich heute kaum noch vorstellen.

Das Herzblut, das dort reingesteckt wurde, war eigentlich die wichtigste Zutat. Alles war auf Augenhöhe. Die Personen, die den Club gemacht haben, waren einfach Freunde, die Bock drauf hatten, Partys zu veranstalten. Es waren keine Geschäftsleute, die einen Plan hatten. Man kannte sie auch, das Team war greifbar. Die Veranstalter:innen waren Teil der Community und auch selber einfach Raver:innen. Die Betreiber:innen wussten halt, wie man feiert. Nicht selten wurde einfach eine Kiste Bier zur freien Verfügung auf den Floor gestellt oder eine Packung Jägermeister-Shots auf den Tresen. Es gab sogar eine Art von spielerischer Rivalität zu anderen Clubs. Die Heimkinder aus dem Stammheim hatten Stress mit den Usern aus dem U60[311, Technoclub aus Frankfurt am Main, Anm.d.Red.]. 

Fehlen dir diese Nähe und Persönlichkeit bei anderen Clubs?

„Fehlen” ist da der falsche Begriff. Der Spirit täte sicher jedem Club gut, aber ich habe es leider bis heute in keinem anderen Club mehr so erlebt wie im Stammheim. Das war schon ziemlich einzigartig.

Ein Flyer des Stammheim mit Maskottchen Ravelinde (Credit: Bringmann & Kopetzki)

Wo hast du die ganzen Artefakte her?

Ich selber hatte noch ein paar Flyer. Es gibt sonst noch ein paar alte Facebook-Gruppen von Heimkindern, da habe ich ganz viel rausgeholt. Ansonsten haben mir Bringmann und Kopetzki ganz viel geholfen. Die beiden haben noch Festplatten mit vielen alten Artworks oder Heimpost-Ausgaben. Ich kam sogar noch an das Etikett des hauseigenen Energydrinks.

Das Stammheim veröffentlichte auch über eigene Plattenlabels Musik: Hörspielmusik und das Sublabel Utils. Bei größeren Partys gab es einen Plattenladen im Club, dort konnte man die ganze Nacht Platten shoppen. Einmal im Monat kam ein Sozialarbeiter, der dann eine offene Stunde gemacht hat, praktisch eine Art Seelsorge, das hieß Talk-Out.

„Die eng umrissene Techno-Szene gibt es schlichtweg nicht mehr. Früher kannte man die Leute so ein bisschen, wenn man regelmäßig zusammen im Club war. Heute ist es durchmischt und größer.”

Was wurde im Stammheim für ein Sound gespielt?

Auf dem Big-Floor ging es schon sehr hart, schiebend und schnell zu, da wurde es auch ein bisschen schranziger. Irgendwann entstand der Begriff Stammheim Sound. Der absolute Held war DJ Pierre. Meiner Meinung war er einer der besten deutschen DJs jemals. Pierre hat krassen Techno gespielt, den auf einmal mit so verzwirbelten Sounds von Cristian Vogel und Matthew Herbert gemixt, und der nächste Track war dann ein geiler Electro-Banger. Das war sehr abwechslungsreich, heute würde man sagen: Genre-fluid. (lacht). Es gab auch viele Einflüsse aus Detroit, Brighton oder von Swedish Techno. Auf dem House-Floor wurde natürlich House gespielt, da tummelte sich die queere Szene. Der Chillout-Floor war für Ambient und experimentellen Sound gedacht. Das alles ergab eine klasse Symbiose.

Die legendäre Dekoration des Stammheim (Foto: Jasmin Moll)

Was war der Grund für die Schließung?

Tatsächlich waren das gar nicht wirtschaftliche Schwierigkeiten. Der Mietvertrag wurde einfach nicht verlängert. Sehr früh gab es auch Probleme mit dem Ordnungsamt, weil Parkplatzpartys ausgeartet sind. Niederländer sind mit ihren Campern dorthin gepilgert und haben da gehaust. Für die Stadt Kassel war es eine riesige Belastung, weil Raver:innen aus der ganzen Republik mit dem Zug ankamen und ins Stammheim wollten. Im Sommer ’99 gab es schon eine Unterschriftenaktion, um das Stammheim trotz der Probleme weiterführen zu können. Das hat dann auch bis 2002 geklappt, dann wurde der Mietvertrag nicht mehr verlängert. Die Stammheim-Crew hat noch nach einer neuen Location gesucht, aber nie etwas gefunden.

Wie seid ihr mit der Schließung umgegangen?

Das war natürlich ganz schrecklich für uns. Ich war damals 19 Jahre alt. Es gab vereinzelt Stammheim-Partys in anderen Locations. Die kamen aber natürlich nie ans Original ran. Unsere Kompensation waren andere Clubs wie das Robert Johnson, das MTW in Offenbach oder das U60 in Frankfurt. Viele Clubs haben DJs aus dem Stammheim gebucht. Es gab nach der Schließung viele Veranstaltungen, auf denen DJ Pierre oder Marky, die großen Namen aus dem Stammheim, gespielt haben. Pierre und Marky hatten auch eine eigene Partyreihe namens HOME im MTW in Offenbach.

Im Vergleich zu damals: Wie siehst du die Szene jetzt?

Mittlerweile ist alles durchkapitalisiert. Es gibt immer weniger Leerstand, Investoren machen Clubs, feiern zu elektronischer Musik wird Mainstream.

Wie siehst du das hier am Standort Berlin?

In Berlin habe ich das Gefühl, dass die Szene sich in einzelne Szenen aufgesplittet hat. Man hat die technoiden Leute, die ins Berghain oder in den Tresor gehen, du hast aber auch die Leute, die ins Sisyphos oder in den Kater gehen. Die sind meistens etwas hippiesker unterwegs. Dann gibt’s noch die cool Kids, die eher House feiern. Die eng umrissene Techno-Szene gibt es schlichtweg nicht mehr. Früher kannte man die Leute so ein bisschen, wenn man regelmäßig zusammen im Club war. Heute ist es durchmischt und größer. Es gibt eine größere Fluktuation. Dazu kommt noch, dass Clubs ihre Flächen an Crews vermieten, so wählen die Leute eher nach Partyreihe als nach dem Club aus, wo sie ausgehen. Bei den Crews wissen sie genau, welchen Sound sie bekommen.

Würdest du auch sagen, dass sich die Art zu feiern verändert hat?

Das Miteinander ist anders. Das Ekstatische und der Eskapismus sind immer noch ein großer Teil dessen, warum Leute feiern gehen. Ich meine hier explizit nicht den Drogenkonsum! Denn mir war es wichtig, keinen Drogenroman zu schreiben. Ich wollte zeigen, dass es eben nicht zwangsläufig Drogen sind, die Leute in einen Rausch versetzen, sondern auch die Musik, das Miteinander. Der Rausch ist das persönliche Erlebnis, das Erlebnis, das du auch ohne Drogen bekommen kannst. Das ist das Geilste, wenn du an diesen Punkt nüchtern kommst. Das vergeht nicht, und das ist heute noch genau so.

Aufnahmen aus dem Stammheim (Foto: Jasmin Moll)

Siehst du einen Unterschied im Publikum?

Die Stadt Berlin hat vor ein paar Jahren damit angefangen, seine Clubs als Tourismusattraktion zu verkaufen. Früher gab es auch schon Touris, aber es war eher so, dass diese Leute auch aus der Szene kamen. Mittlerweile gehen Menschen nach Berlin, die gar keine Ahnung von der Szene haben. Und dann ist da die neue Generation, die während Corona durch TikTok statt durch die Szene sozialisiert wurde. Als die Clubs wieder geöffnet haben, haben die schon fast gestört. Das ist null böse gemeint, aber die kannten das einfach nicht. Für die gab es keine organische Entwicklung, die kamen direkt aus dem Internet auf die Tanzfläche. Dann gibt es noch offensichtliche Generationenunterschiede. Die Gen-Z trinkt ja weniger, was für die Clubs zum Problem wird, weil das ein großer wirtschaftlicher Zweig ist. Deshalb habe ich das Gefühl, dass manche Clubs ihre Türpolitik lockern müssen, weil ihnen sonst Einnahmen ausbleiben.

Gab es bei euch auch so einen Generationen-Clash?

Klar, jede Generation bringt ihr eigenes Ding mit: Bei uns waren die Buffalos schon out, wir hatten weite Schlaghosen und Skaterschuhe, die Jungs ihre Vogelnest Frisuren und die Surferketten. Da haben uns die älteren Raver auch schon komisch angeschaut. Heute ist es das angefetischte Düstere. Alles entwickelt sich.

Hast du schon eine Idee für ein zweites Buch?

An sich hätte ich Lust, etwas über Berlin zu schreiben, so um die Nullerjahre. Die Nuller waren ebenfalls eine neue Epoche, da kamen dann Watergate, Bar 25, das OstGut. Und damals war die Berlin Szene wohl auch am größten, weil sie sich gefestigt hatte. Techno hat sich in dieser Zeit professionalisiert.

Abschließend: Gibt es noch irgendwelche Anekdoten, die es nicht ins Buch geschafft haben, irgendwelche Geschichten, die du noch erzählen willst?

Nein. Ich habe alles erzählt. Alles, was mir wichtig war, ist drinnen.

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