Teil 2 der Compilations des ersten Halbjahres findet ihr hier.
VA – 10 Years of Shaw Cuts (Shaw Cuts)
Zehn Jahre, gemeinhin Dekade genannt, sind eine lange Zeit. Insbesondere in der elektronischen Musik, wo in dieser Zeitspanne Revivals, Moden und Karrieren auf- und abebben. Gut, wenn man sich der Schnelllebigkeit so konsequent verweigert wie das Label Shaw Cuts und sein Macher Farron und sein eigenes Süppchen kocht, während Tech-House und Breaks vorgeblich sterben, (Psy-)Trance und harter Techno gedeihen, House keine Sau mehr interessiert und wieder prosperiert und Tech-House und Breaks schließlich wiederauferstehen. Farron, mit bayerischer Skater-Attitüde und deshalb ohnehin mit einer gewissen Portion Eigenbrötlerei ausgestattet, blieb während all der Jahre einem spröden, erdigen Sound, der nie mehr zu sein vorgab, als er letztlich war, treu.
Formula Gones „Wolf Lamp” exemplifiziert das mit einem stolpernden, auf Analog getrimmten Beat, unter dem sich langsam glitchende Pads hervorschälen, und einem monotonen, coolen Vocal adäquat. Ästhetisch poltern wir hier eher im Lo-Fi-Bereich und hören eine klare Absage an die Sterilität des Digitaltechno, Flanellhemd statt NAKT-Harness. Auch das programmatisch betitelte „A Decade Of Cuts” von Delta Division im Anschluss kümmert sich mehr um Tiefe denn um Geschwindigkeit und setzt auf ein Low-End, das auch Answer Code Request gut zu Gesicht stünde. Noch eine Spur roher fällt der Beitrag von Cressida aus, der eiskalten Electro mit Drummachine-Patina liefert. Zur Mitte gibt sich Farron mit „Barcaelon” selbst die Ehre und brettert mit wendiger Bass Music los, die desorientierend das Düstere, das jeder Clubnacht innewohnen kann, betont. Auch der Rest der Compilation überzeugt, vor allem aufgrund der Variabilität, die er aus Bass Music, Techno und Breaks gewinnt: Impuritys „Dacalcomania” erinnert an den schamanistischen Techno auf Timedance, Merino wagt sich mit „Hidden Blade” noch zwei Etagen tiefer, Serenace liefert mit „Salle D_Attente” eine dramatische Fusion aus IDM und Electro, Regen lässt mit „Jela” zum Abschluss einer gelungenen Compilation sommerliche Regentropfen im Zeitlupentempo von der Fensterscheibe perlen. Maximilian Fritz

VA – Astral Projections (Alien Communications)
Eine Electro-Compilation vor allem mit Schönheit in Verbindung zu bringen, dürfte noch nicht allzu oft passiert sein. Astral Projections stellt also eine Art Präzedenzfall dar, und das Schöne beginnt gleich mit dem Titel – Astrale Projektionen, da falten sich in Sonnenwindeseile Assoziations-Schichten auf, und der Film kann beginnen. Und natürlich umgarnt in erster Linie die Schönheit der Tracks, sie nimmt von Beginn an bei der Hand und leitet durch eine spacige, irgendwie ungewöhnlich sanfte Tracklist.
Los geht es mit drei perfekt aufeinanderfolgenden Stücken von ERP, Reptant und Moy. Klar, die Beats sind funky und auch electro-typisch eckig, aber auch fließend und umhüllt von gut dosierten Synthie-Wolken. Mit Track sieben beginnt dann ein energetischeres und härteres Interlude aus drei Tracks. Carl Finlow dreht in „Woven” den Distortion-Regler auf und das Tempo herunter, danach setzen Transparent Sound und Radioactive Man sehr gelungene clubbige Akzente. Das letzte Viertel der zwölf Tracks kehrt wieder zurück zur trippigen Atmosphäre der ersten Hälfte. Hutten Drives „Underwater Lights” sei allen Soundtrack-Kurator:innen ans Herz gelegt, Fasmes „Underneath” allen DJs, die den perfekt auf „Blue Monday” hinleitenden Track für ihr Retro-Set suchen. Den gefühlvoll-melodischen Schlusspunkt setzt kein Geringerer als Edward Upton alias DMX Krew. Es wäre keine Überraschung, im Gegenteil, ein perfektes Ende, wenn auf seinem Stück plötzlich die Stimme von David Gahan mit einigen melancholischen Zeilen erklingen würde. Mathias Schaffhäuser

VA – Brillo en Silencio (NYXII)
Drei Jahre, die dritte Compilation – zum dreijährigen Bestehen veröffentlicht NYXII seine dritte Compilation. Brillo en Silencio, Glanz in der Stille, ist ausschließlich weiblich besetzt und bewegt sich zwischen introspektivem Techno und hypnotischen Club-Tracks. Mal etwas gediegener, mal zackig.
Den Auftakt macht Beatrice mit „Overcome”, einem tiefen, gefühlvollen Track, der Melancholie und Wärme in sich trägt. Ana Alves führt den emotionalen Ton in „To Eternity and Beyond” weiter – der sanft pulsierenden Rhythmus verdeutlicht die musikalischen Wurzeln der Spanierin à la Mulero. Treibend.
Dunkler und texturierter wird es mit Sploofis „Anguiform” und E2NMNs „Eyes Open”, wo modulierte Percussions und tiefe Bässe in ihren Bann ziehen. LYZA und Isabel Soto bleiben zurückhaltender, fast minimalistisch und schicken mit ihren Bleep-Loops auf den Dancefloor. Tanzbar geht es auch mit Julieta Kopps „Echoes Beyond Reality” und Danyas flinkem, hypnotischen „Romance Of Dimensions” weiter. Elisa Batti schließt die Sammlung mit „Liquid Dust” zart ab.Brillo en Silencio ist ein ruhiger, reflektierter Gegenentwurf zum rasenden Peak-Time-Techno. Kein Druck, sondern die Tiefe dominiert hier. Eine klare künstlerische Vision. Gleichzeitig ist die VA ein Statement für Sichtbarkeit und Diversität in der elektronischen Musikszene. Jacob Runge

VA – Clergy 10 Years (Clergy Records)
Clergy aus Manchester feiert sein zehnjähriges Bestehen mit einer Reihe von 12-Inch-Veröffentlichungen, Alpha, Beta, Charlie, Delta und Echo, die zusammen ein Porträt des Labels malen. Schnörkellos. Jede Platte steht für einen Eckpfeiler des Sounds: Vom Tanzbein gesteuerter Groove über minimale Präzision bis hin zu stimmungsvoller Psychotropie.
Der Auftakt Alpha legt das Fundament: roher, geradliniger Techno mit Betonung auf Rhythmus und Funktionalität. Keine Experimente, sondern ein klarer Rahmen – clubtauglich und ohne Ausschweifungen. Beta gesteht sich mehr Fläche, mehr Raum zu. Die Tracks wirken ausgedehnter, stellenweise dubbiger. Eine subtilere Seite des Labels, die Tiefe statt Härte priorisiert, ohne dabei den Boden unter den Füßen zu verlieren. Charlie gibt sich direkter, etwas dunkler. Hier überwiegt der Drive: kantige, stechende Synths, alles auf Vorwärtsgang getrimmt. Weniger Zwischentöne, mehr Wucht. Die Rohste der fünf Platten.
Delta fällt funktional aus. Künstler wie Nørbak oder Sciahri liefern trockenen, mitreißenden Techno mit klarer Linie. Kein Platz für Pathos – eher Konzentration aufs Wesentliche. Statement durch Reduktion. Echo ist die ruhigste, nachdenklichste Veröffentlichung der Reihe. Sie spielt mit Atmosphäre, Tiefgang und subtilen Details. Jeder Track bringt seine eigene Stimmung ein – von hypnotisch bis melancholisch, von organisch bis mechanisch.Die Compilation bleibt damit inhaltlich konsequent, neugierig in der Form und stark in der Ausführung – genau so, wie ein Jahrzehnt wiedergegeben werden sollte. Jacob Runge

VA – Cocoon Compilation V (Cocoon Recordings)
Nicht nur more of the same, sondern den Status Quo der elektronischen Tanzmusik nachzeichnen und mitgestalten: Das ist seit jeher das Ziel der Reihe Cocoon Compilation des gleichnamigen Labels, und das ist auch der Anspruch der mittlerweile 22. Ausgabe. Wer versuchen möchte in dieses musikgewordene Techno-Kaleidoskop eine Ordnung zu bringen, würde die erste Hälfte als hypnotisch, atmosphärisch, vielleicht sogar konventionell beschreiben. Delenz & Zeitstill eröffnen mit warm-minimalistischem Ambient, bevor Superpitcher mit „Dream B” melancholische Melodien in den Mittelpunkt stellt. Energischer und roher gehen Patrice Bäumel und Sawlin ans Werk, die von fast schon euphorischen Klängen von Tal Fussman beerbt werden, die die erste Hälfte beschließen.
Chaos, Schnelligkeit und Überraschung prägen die die zweite Hälfte. Der wilde Start von Ken Ishii und Yuada wird von Marcel Fenglers „Aura” aufgenommen. Überraschende Wendungen bietet Joe Metzenmacher, der mit einer funky Bassline den Dancefloor in den Fokus rückt. Das große Finale ist „Distorter” von Matthias Schildger, das als rohes Gegenstück zum Anfangstrack einen interessanten Bogen aufzeigt.
Diese Compilation stellt die klare Antipode zum algorithmisch betriebenen Playlist-Gedanken dar und fordert damit eine vielleicht schon verlernte Toleranz für Brüche und Änderungen ein. Tom-Luca Freund

VA – Ellen Allien pres. We Are Not Alone, Pt 9 (BPitch Berlin)
Harter Techno hat sich inzwischen zur inoffiziellen Hymne der TikTok-Generation entwickelt, getragen von den Front-Row-Warriors in ihrem Ketten-Harness, und die schnelle Brille darf natürlich auch nicht fehlen. Der Sound: schnell, laut, massiv, aber oft ohne viel Substanz.
Dass es auch anders geht, zeigt Ellen Allien mit der neunten Ausgabe ihrer Compilation We Are Not Alone, die auf der gleichnamigen Eventreihe basiert, die 2019 von ihr ins Leben gerufen wurde. Der erste Teil ihrer Compilation erschien am 9. Oktober 2020, und auch beim neunten Mal enttäuscht Ellen Allien nicht.Los geht’s mit „Faze Swapp” von DJ Europarking, einem verspielt-düsteren Hard-Trance-Track, der sofort den Ton angibt. Die Compilation reicht von wuchtigem Hardtechno über düsteren Industrial und Acid bis hin zu überraschend groovigen, fast funkigen Momenten, präsentiert von Künstler:innen wie Aida Arko, Sarah Sommers und Alan Oldham alias DJ T-1000. Dazwischen entfaltet sich ein Spiel aus roher Härte, dunkler Energie und hypnotischen Sounds. Den Schlusspunkt setzen Dr. Rubinstein und Blind Observatory mit „Express Lane”, einem hypnotisch-groovigen Acid-Track, der alles zusammenführt und die Compilation perfekt abrundet. Wer Techno abseits von Trends sucht, wird in diesen 57 Minuten, verteilt auf zwölf Tracks, definitiv fündig. Katharina Pittack

VA – Klubnacht 01 (Ostgut Ton)
Das Ostgut – der Club, nicht das Label – und die erste Panorama Bar gelten vielen Techno-Fans als Sehnsuchtsorte und genießen ultimativen Legendenstatus. Über die Berechtigung kann man möglicherweise streiten, aber beide waren definitiv besonders und ragten aus der Masse heraus. Ostgut Ton wurde gegründet, als Club und Bar schon Geschichte waren und das Berghain als Nachfolger bereits eröffnet hatte. In den letzten vier Jahren lag das Label auf Eis, aber Klubnacht 01 setzt ein massives Zeichen, dem hoffentlich ein Neustart folgen wird.
Die Compilation, benannt nach einer der wichtigsten Partyreihen des Clubs, bringt 18 neue Tracks von großen Namen, geschätzten Verbündeten und einigen neueren Acts. Nach einem smoothen, kurzen Einstieg von Efdemin folgen direkt zwei der Höhepunkte des Samplers, das trippige und im besten Sinne nicht enden wollende „Afternoon Calcium” von Quelza und eine Zusammenarbeit von Azu Tiwaline und Cinna Peyghamy namens „Chrome Fever”. Es folgen ähnlich fordernde und technoide Tracks von Altinbas oder GiGi FM und ein epischer und für das Genre ungewöhnlich raviger Dub-Techno-Track von Fadi Mohem. Danach beginnt mit Steffis „Soul Clapper” ein im weitesten Sinne housigerer Abschnitt der Compilation. Hier ragen die Tracks von Verraco und Wallace heraus. Snecker betreibt auf dem vorletzten Track noch einmal erfrischendes Genre-Bending. Übrigens: Die auf 150 Stück beschränkte Limited Edition mit Poster der Covergrafik, einem Schlüsselanhänger mit Label-Logo und hochwertigen Downloads ist leider bereits ausverkauft. Mathias Schaffhäuser

VA – IDO 025 VA 10th anniversary (IDO)
Zehn Jahre IDO, und diese Compilation präsentiert exakt das, was das Label ausmacht – zurückhaltender Techno, aber mit viel Tiefe. Vielseitigkeit wird hier großgeschrieben. Sie zeichnet sich nicht durch ständige Club-Brecher aus, sondern zeigt eine andere Seite des Genres. Etwas verspielter, aber intelligent.
Es ist eine Compilation, die nicht auf Showeffekte setzt, sondern auf Atmosphäre und Funktionalität. Jeder Track fügt sich organisch ins Gesamtbild ein – mal nachdenklich, mal direkt, aber immer mit einer gewissen Leichtigkeit. IDO 025 steht für ein Label, das nie laut schreien musste, um gehört zu werden. Stattdessen zeigt es, wie man mit Zurückhaltung und klarem Fokus langfristig eine eigene Sprache entwickelt. Jacob Runge

VA – Kapote presents Italomania Vol. 3 (Toy Tonics)
Italienische Lebensart ist auch so eines dieser Stereotype. Lecker Eis, schön orange leuchtender Aperol Spritz und dolce vita sowieso. Nicht zu vergessen: Italo Disco. Damit Letztere nicht völlig zum Klischee ihrer selbst verunstaltet wird, hat das Berliner Label Toy Tonics eine vitalisierende Maßnahme ergriffen. Zum dritten Mal schon versammelt es unter dem Titel Italomania ausdrücklich „New Italian Disco”, zumindest bei der Genrebezeichnung demonstrativ auf das leicht abwertend klingende „Italo” verzichtend, wobei unter anderem sogar ein privates Eisenbahnunternehmen in Italien so heißt. Labelchef Mathias Modica alias Kapote trifft selbst die Auswahl. In Rom geboren und zum Teil dort aufgewachsen, bevor er in München das Label Gomma gründete und darauf musikalisch als Munk in Erscheinung trat, bringt er familienseitig einiges an Italianità mit.
Erfreulicherweise geht es auf Italomania aber gar nicht um ein ethnisches Dings, sondern um italienische Disco in dem Sinn, dass da jemand auf Italienisch über einem guten Groove singt. Das kann auch der österreichische Musiker Louie Austen sein. Oder Modica selbst, als Kapote und Munk im Track „La Musica” mit herrlich trashigem Synthiebass und tiefergelegter Stimme. An anderer Stelle kann wiederum die Mailänder Sängerin M¥SS KETA albern-ironisch den ganzen Katalog an Vorurteilen über „ihr” Land abarbeiten. Das ist mindestens divertente, um nicht zu sagen: Fico! Tim Caspar Boehme

VA – Não Estragou Nada (Príncipe)
Kann man einfach kaufen. Weil das so geile Musik ist. Weißt du: Príncipe. Das Label mit der Fahne über dem i-Tüpfel. Da macht man Musik, die macht nicht nur Untz Untz Untz wie vom Berghain bis zum Fernsehgarten. Die macht eher so Untz tz tz Untz tz tz. Und der wohlinformierte Musikjournalist merkt sofort an: Ba-ti-da! Portugiesische Favelas! Fruity Loops! Da kommt das alles her, da muss man das alles einordnen. Oder, ey, andere Idee: Man holt sich einfach mal diese Comp. Sind 37 Lieder drauf. Die erste Hälfte ist Champions League, zur Zwischenzeit wird es ein bisserl mühsam und am Ende hat man wieder was gelernt. Bestenfalls jedoch die Sommershortlist um ein paar Einträge erweitert. Meine Picks: Niagara mit einer Ballade, die Erobique fix nicht besser zusammengetrötet bekäme. DJ Danifox als Shakira auf Heliumballonen. Und DJ Veiga, weil vier Akkorde reichen – für immer und einen Song. Christoph Benkeser
